Jetzt ist das Urteil in Lüneburg gefallen, so daß ich nach meinen Kolumnen vom 21. und 27. 04.2015 auch hierauf eingehen möchte. Die bitterböse „Titanic“ titelt heute online unter der Rubrik „Fast richtige Schlagzeilen“ „Überraschend hartes Urteil: Oskar Gröning muß ins KZ“. Darüber muß man nicht in Lachen ausbrechen, wenn aber doch, soll es einem ohnehin wie bei Beckett im Halse stecken bleiben. Wie so oft liegt ein Kern Wahrheit in der Satire.
Die vier Jahre Strafe für Oskar Gröning sind in meinen Augen nämlich ein wohlfeiles politisches Urteil.
Rechtlich bleibt es gelinde gesagt fragwürdig. Direkte Beteiligungen an Tötungshandlungen – nach meiner Auffassung die einzige Möglichkeit, zu einer Verurteilung zu gelangen – sind nie behauptet und im Laufe der Beweisaufnahme auch nicht ans Licht gebracht worden. Selbst aber maßgebliche Mitarbeit mit Entscheidungskompetenz bei den Selektionen an der Rampe, die beim Demjanjuk-Prozeß juristisch zweifelhaft als ausreichend angesehen worden ist, wurde nicht nachgewiesen. Die Lüneburger Richter gehen also noch einen Schritt weiter, was faktisch bedeutet, daß jeder, der, egal wo, in einem Konzentrationslager Dienst getan hat oder tun mußte, sich der Beihilfe zum Massenmord schuldig gemacht hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfte die Revision damit das Urteil aufheben; meiner festen Überzeugung nach müßte sie es tun.
Warum spricht man dann trotz der großen öffentlichen Aufmerksamkeit ein mutmaßlich falsches Urteil, bei dem man vielleicht sogar unterstellen kann, daß der Spruchkörper das sehenden Auges getan hat?
Oskar Gröning ist 94 Jahre alt, und seine Gesundheit ist entsprechend stark angeschlagen. So dürfte eine Haftfähigkeit nicht gegeben sein, womit eine Vollstreckung bereits scheitert. Außerdem muß mit der Rechtsmitteleinlegung der Verteidigung gerechnet werden, so daß auch so der Haftantritt in sehr weite Ferne rückt. Hat man deshalb einfach einmal im luftleeren Raum vier Jahre verhängt, weil man weiß, daß der vermeintliche Delinquent niemals einrücken muß und mit hoher Wahrscheinlichkeit vor endgültiger Entscheidung ohnehin eines natürlichen Alterstodes sterben wird?
Das Urteil ist eine vertane Chance. Und wieder hat die bewunderungswürdige Eva Kor als Holocaust-Überlebende die richtigen Worte gefunden, wenn sie sagt, es wäre besser gewesen, „man hätte ihn zu Sozialdienst verurteilt, um gegen Neo-Nazis zu sprechen“. Rechtstechnisch wäre das eine Einstellung unter Auflage und in meinen Augen mit Zustimmung aller Beteiligten durchaus möglich gewesen. In Zeiten des Fremdenhasses und brennender Flüchtlingsheime könnten die letzten Zeitzeugen des Nazi-Terrors vielleicht einiges an Überzeugungsarbeit leisten, um diese verbohrten Neo-Nazis zur Einsicht und Umkehr zu bewegen.
Nicht verschweigen will ich, daß der Prozeß gleichwohl etwas Großes geleistet hat, weil Oskar Gröning, der auch hätte schweigen können, die Gelegenheit genutzt und sich ausdrücklich und eindeutig zu seiner moralischen Schuld bekannt hat, was sogar die Nebenkläger mit Respekt gewürdigt haben. Das ist doch ein großartiges Zeichen, daß hier jemand im Angesicht seines wohl nahen Todes hat setzen können. Die Bühne dafür geschaffen zu haben, dafür ist den Verfahrensbeteiligten allerdings zu danken.
Aber anstatt jetzt in Deutschland hastig weitere Anklagen zuzulassen, um in langwierigen Prozessen ähnliche Urteile zu produzieren, sollte lieber im Korschen Sinne schnellstens überlegt werden, wie man – zum Beispiel mit Einstellungen unter Auflage – die letzten noch lebenden Mitläufer des Dritten Reiches dazu bewegen und bringen kann, erstens in ähnlicher Weise wie Gröning ihre moralische Schuld einzugestehen und zweitens der Nachwelt zur Überzeugung zu verhelfen, daß eine solche Stimmung und Lage, die den Holocaust erst möglich machten, nie wieder entstehen können und dürfen. Und für führende Historiker, Soziologen und Pädagogen müßte es doch ein Leichtes sein, hierfür kurzfristig eine Strategie und ein tragfähiges Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Es eilt! Die Zeit läuft bald ab.
Gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf