Was für eine Aufregung um ein Bild!
Ein Teil der Presse hat sich in den letzten Tagen gegenseitig mit moralinsauren Kommentaren und Aktionen im Gutmenschsein übertroffen. Es geht um das Photo eines toten syrischen Jungen, der an einen türkischen Strand gespült wurde. Die FAZ, aber auch z. B. die Freie Presse begründeten wortreich, warum sie dieses Bild nicht abgedruckt haben, während andere, auch die internationale Konkurrenz damit eher kein Problem hatten respektive den Abdruck umfangreich rechtfertigten. Den krönenden Abschluß setzte die Bild-Zeitung, die auf ihrer Online-Ausgabe für eine gewisse Zeit alle Photos wegließ, um aus ihrer Sicht zu beweisen, wie wichtig die Bildinformation ist, um einen Sachverhalt zu erfassen.
Mit letzterem hat die Bild-Zeitung in Bezug auf sich selbst natürlich recht; sie widerspräche ohne Photos schon ihrem Titel, und angesichts ihrer zum Teil kargen und schlichten Wortinformationen ließe sich manches sonst auch kaum umfassend verstehen. Von den nackten Mädchen ganz zu schweigen, die sich nur über die Abbildung erschließen und nicht über ihre ansonsten nicht vorhandenen Eigenschaften, die ihnen angedichtet werden.
Keiner aber stellte die in meinen Augen wichtigste Frage. Mußte diese Photographie überhaupt entstehen?
Der todesmütige Kameraakrobat hat eine in absoluter Ruhe befindliche Leiche abgelichtet. Tut man das? Meiner Meinung nach nicht! Es gilt doch auch der allgemeine und richtige Komment, daß Opfer eines Unfalls im Straßenverkehr oder einer Straftat nicht beziehungsweise wenigstens nicht ohne ein Leichentuch auf Zelluloid gebannt werden. Vorliegend handelt es sich um das Opfer eines Schiffsunglückes. Daß es das Kind einer Flüchtlingsfamilie war, das von kriminellen Schleusern, aber auch – was leider ebenfalls total vergessen wird – von den eigenen Eltern in unverantwortlicher Weise in Gefahr gebracht worden ist und darin umkam, ändert hieran nicht im geringsten etwas. Im übrigen ergeben sich alle diese Aspekte nicht aus dem Bild an sich, sondern nur aus seiner Erläuterung. Damit ist es obendrein ein vollkommen nichtssagendes Bild.
Die einzig richtige Reaktion aller seriösen Presseorgane hätte also sein müssen, den Abdruck des Bildes gar nicht erst in Erwägung zu ziehen. Und wenn man etwas nicht veröffentlicht, muß man auch nicht stattdessen begründen, warum man es nicht tut. Richtig gemacht haben es in meinen Augen nur die, die nicht das Bild der Jungen-Leiche, sondern das Bild des italienischen Polizisten abgedruckt haben, der den Toten auf den Armen den Strand hochträgt. Dieses Bild spricht zu uns und deutet in einem kleinen Ausschnitt das Ausmaß der Katastrophe, nicht nur auf der Seite der Opfer, sondern auch auf der Seite der Ersthelfer, an.
Und der Abdruck des inkriminierten Bildes wäre nur notwendig und gefordert gewesen, hätte man den Photographen einer Pietätslosigkeit zeihen wollen. Diesen Aspekt aber hat offenbar und in unverzeihlicher Weise niemand bisher gesehen. Das wäre einer anständigen Aufregung wert gewesen.
Und die Moral von der Geschicht‘?
Im Zuge unserer neuen, anfallartigen, oft geheuchelten und zumeist kurzlebigen Betroffenheitskultur, bei der jeder, der dazugehören will, spontan, also ohne viel nachzudenken mitmachen muß, um nicht zu spät zu sein, versperren die in Krokodilstränen ertrinkenden Augen und ein emotionsverblendetes Hirn den Blick und die Gedanken auf das Wesentliche.
Es ist schade und nicht zu begreifen, daß dieser partielle Verlust an Vernunft und Überblick auch einer guten Zeitung wie der FAZ unterläuft.
Gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf