„Ruhelosigkeit“!
So ist ein interessanter Leserbrief in der heutigen FAZ überschrieben. Er bezieht sich auf einen Artikel von Jakob Strobel y Serra, den ich nicht gelesen habe, in dem aber wohl ein Loblied auf das Reisen anstimmt worden sein muß und das Nichtreisen als „kleinmütige Kapitulation“ und „Verrat am Leben“ geziehen wurde. Das klingt aber sehr forciert vom von mir sehr geschätzten Herrn Strobel!
Der kritische Zeitungskonsument erlaubt sich daher im Gegenzuge, Seneca d. J. aus dessen Episula 69 – habe ich leider nicht im Schrank – wie folgt zu zitieren: „Du sollst nicht wechseln die Gegend und von einem Ort zum anderen hinüberspringen,……………, weil so häufiges Reisen Zeichen einer unsteten Sinnesart ist: Kraft zu gewinnen durch Muße vermag sie nicht, wenn sie nicht aufhört, herum zu blicken und umherzuirren. Um deine Seele zusammenhalten zu können, bring erst deines Körpers Ruhelosigkeit zum Stehen.“
Mit der Art des Reisens habe ich mich bereits vielfach beschäftigt(s. z. B. Kolumne vom 06.10.2015), aber diese Sicht auf das Thema hatte ich in der Schärfe noch nicht. In Ermangelung des vollständigen Textes kann ich nun nicht sagen, ob Seneca, hat man seine Ruhe erst einmal gefunden, das Aufnehmen von Reisen für gang- und verantwortbar hält oder gar das Zurruhekommen als unabdingbare Voraussetzung im Sinne einer geistigen und emotionalen Festigkeit dafür sieht, überhaupt zu reisen, es dann aber vielleicht sogar empfiehlt. Und war Seneca ein Vorbild für Kant?
Man sollte es demnächst einmal nachlesen, aber eigentlich spielt es keine Rolle, denn im Kern kennen wir die Meinung Senecas aus dem Psalm 37 als „bleibe im Lande und nähre Dich redlich.“. Sicherlich ein bedenkenswerter Aspekt, wenngleich ich, so sehr ich gegen Hast und Oberflächlichkeit votiere, im Reisen immer auch eine zurückgelegte Wegstrecke in unbekannte oder bekannte, auf jeden Fall aber fremde Welten mit mehreren Stationen sehe, allerdings einräume, daß man auf diese Weise nur in Maßen konkret und tief in kleine fremde Welten einzutauchen vermag. Auf der anderen Seite aber kann der Gesamtaufenthalt in der Fremde – erst recht wenn man die dortige Sprache spricht – meiner Meinung nach doch so etwas wie eine vorübergehende assimilierende Verschmelzung mit dem unbekannten Terrain und seinen Menschen insgesamt erreichen.
Eine vermittelnde Lösung postuliert mein geliebter Hans Blumenberg(s. auch Kolumne vom 11.06.2016), der in seinem Kurzbeitrag „Reisen durch die präparierte Welt“(zu finden im Suhrkamp-Taschenbuch-Wissenschaft Nr. 2141 „Schriften zur Technik“) den Oberinspektor X. vorstellt, der seit über zwanzig Jahren seinen entschleunigten Urlaub am selben Ort verbringt und diesem den für kurze Zeit daselbst heuschreckenartig einfallenden Reisebus und seine gehetzten Gäste, die nach geballtem Kurzprogramm genauso schnell verschwunden wie sie gekommen sind, entgegenstellt. Wem dabei seine Sympathie gilt oder wer er dabei wahrscheinlich selbst ist, liegt auf der Hand. Zum Ende der Geschicht‘ sagt er über den Protagonisten: „Er ist vielleicht bescheiden genug, daß sich ihm das kleine Stückchen Welt, das er in jedem Urlaub wieder umwirbt, mit seiner verborgenen Fülle hingibt. Und wenn er das Schmähwort des „Spießers“ nicht scheut, das die laute Touristengesellschaft vorhin auf der Zunge führte, dann wird ihm das wahre Glück allen Reisens zuteil: an der Fülle des Fremden sich das Eigene erst recht zu eigen zu machen.“.
Blumenberg hat also das Glück auf Reisen erfahren. War Seneca genauso glücklich? Oder liegt die Kunst lediglich in der richtigen geistigen Verfassung des Reisenden und der genügenden Präparation und Dosage? Letztlich muß jeder seinen Weg finden. Auf das Reisen gänzlich zu verzichten, scheint mir allerdings nicht der Königsweg zu sein, weil einem auf diese Weise einiges Beglückende und Befruchtende entgeht. Allein das Zurückkehren in die jeweilige Heimat ist doch eine Freude an sich. Fest steht aber auch, daß das, was viele und vermutlich die Mehrheit heute für Reisen halten, damit nicht im geringsten etwas zu tun hat und überwiegend wert- sowie witzlos ist.
Wer seine Reise jedoch bereits vorher grundsätzlich bedenkt und dann auch mit Bedacht reist, hat wesentlich mehr davon. Und selbst wenn es bei den Vorbereitungen bleiben und die Reise gar nicht angetreten werden sollte, bleibt schon ein Gewinn. Sogar der Finger auf der Landkarte kann mehr Reiseerfahrung vermitteln, als große Teile der heutig beliebten, ruhelosen Tourismusformen. So oder so liegt der Schlüssel in der Ruhe!
Bon voyage und gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf