Wir leben im „Zeitalter der Jacke“!
Wo bist Du hin, du schöner Mantel! Eine Schande, daß dieses genauso stilvolle wie praktische – es schützt und wärmt nämlich auch den verlängerten Rücken und die Beine – Kleidungsstück nahezu aus dem Straßenbild – von rühmlichen Ausnahmen in Großstädten einmal abgesehen – verschwunden ist. Mein alter Vater, der als Hamburger ganz andere Erinnerungen hat, hat schon vor über zehn Jahren für seinen täglichen Gang in den Supermarkt eine Belohnung von fünf Euro für die Dame ausgesetzt, die ihm mit – ausdrücklich nicht „nur mit“, dafür wäre ein Heiermann auch zuwenig! – einem Mantel bekleidet begegnet. Es steht zu befürchten, daß er bis heute nicht genötigt war, das Geld auszuzahlen. Der Ehrlichkeit halber muß man ergänzen, daß sich die Anekdote in Ostdeutschland abgespielt hat, wo der Kommunismus nicht nur das Christentum, sondern auch den Mantel als kapitalistisches Symbol ausgerottet hat. Tolle Leistung dieser humorlosen, unästhetischen, spießigen Pleitiers! Nun mag man akzeptieren, daß sich der Kundengeschmack ändert und Moden unterworfen ist. Dann müßte der Mantel jedoch wellenmäßig modisch zurückkehren, was er aber nicht tut. Es ist eine kleidungstechnische Kulturevolution zu beklagen. So weit, so unschön! Es gibt ja auch klassische Jacken, zum Beispiel den Caban oder die von Barbour, die nicht nur praktisch, sondern auch schön anzusehen sind, wenngleich nicht verhehlt werden soll, daß es sich auch hierbei ursprünglich um Berufskleidung im weiteren Sinne gehandelt hat; vielleicht muß man sogar den Sündenfall der Veralltaglichung von Zweckbekleidung weit vorverlagern, allerdings hat das den Mantel lange nicht verdrängt. Und die sind aber wenigstens aus Naturmaterialien gefertigt. Was herrscht jedoch vor? Die Plastikjacke! Überwiegend aus raschelnden, ballonseideähnlichen, technischen Stoffen hergestellte Wander- und Outdoorkleidungsstücke sind es, die heute zu jeder Gelegenheit getragen werden. Ohne diese Zeiterscheinung wären solche Erfolgsgeschichten wie die furchtbare Marke Wellensteyn, die nicht Fisch und nicht Fleisch ist, garnicht enstanden, und man würde in Hamburg weiterhin auf kleiner Flamme Berufsbekleidung produzieren oder schon pleite sein. Jetzt dienen deren marktrennerische – wirtschaftlich gesehen natürlich ein gutes Exempel für Anpassung und Erneuerung – Kurzformoberbekleidungsprodukte als noch häßlichere, dafür weniger funktionale, also vollkommen überflüssige Ergänzung der Standards von Vaude, North Face, Jack Wolfskin etc., die man wenigstens auch beim Wandern tragen kann. Jetzt könnte man meine Klage als rein ästhetisches Angewidertsein abtun und mir raten, einfach nicht hinzusehen. Die Menschen aber, die diese Sporttextilien überwiegend abseits der sportlichen Betätigung im Alltag tragen, schrecken davor auch nicht zurück, wenn sie Kirchenkonzerte – das gilt in gewissem Rahmen auch für Gottesdienste – besuchen, bei denen man traditionell und tunlichst den Mantel, also hier die Jacke anläßt, weil es einfach kalt in unseren Gotteshäusern ist. Und da wird es ärgerlich! Zum Bonbonpapierrascheln kommt jetzt das Dauerrascheln der Oberbekleidung hinzu, das sich, selbst wenn der Träger ansonsten weiß, wie man sich zu benehmen hat, auch bei peinlichster Inachtnahme nicht vermeiden läßt. Das ist rücksichtslos und ein weiterer, bedauerungswürdiger Mosaikstein in unserer heutigen, egomanen Welt. Darüber kann man eben gerade nicht den Mantel des Schweigens decken.
Gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf