wolfsgeheul.eu vom 20.05.2015

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Neulich hat ein sehr guter Freund, dessen intellektuelle Integrität außer Frage steht, versucht, mir die Vorzüge seines Kindle, also eines elektronischen Buchwiedergabegerätes nahezubringen. Der Apparat ist eigentlich ein kleiner Tablet-PC mit besonderem Zugang zu den unendlichen Weiten der Welt des Buches. Man hinterlegt seine Kontoverbindung und kann, Empfang vorausgesetzt, nahezu an jeder Stelle der Erde gespeicherte Exemplare lesen sowie neue kaufen und danach lesen. Das Gerät ist intelligent und funktional, merkt sich die zuletzt gelesene Seite und ermöglicht wegen Hinterleuchtung des Bildschirms das Lesen in stockdunkler Nacht ohne Taschenlampe. Es nimmt im Urlaubsgepäck kaum Platz weg und wiegt weit weniger als der Buchstapel, der sonst auf Reisen gehen muß und oft ungelesen, aber durch Transportschäden etwas abgenutzter aussehend, wieder zu Hause anlangt. Unstreitig faszinierend – und das tatsächlich im spockschen Sinne!

Nun will ich niemanden kritisieren, der dieser neuen Technik frönt. Wichtig ist doch, daß der Mensch überhaupt liest. Aber was geht auf diese Art alles verloren!?

Früher konnte man in den vier Wänden eines Menschen sehr schnell einschätzen, ob jemand interessiert und gebildet ist, also etwas auf dem Kasten hat. Wenn man einmal die Priviligierten, die über eine räumlich gesondert eingerichtete, dem normalen Besucher vorenthaltene Bibliothek verfügen, ausnimmt, genügte ein prüfender Blick, selbst von außen, ins Wohnzimmer, sprich man mußte nur schauen, ob dort Bücher in Regalen standen oder nicht. Die Einteilung in Menschen, die mit Büchern oder ohne Bücher leben, war schnell möglich, erlaubte ein schnelles und zumeist zutreffendes Urteil über dieselben und ersparte einem mühsames Bohren und Suchen nach Substanz. Einmal ganz davon abgesehen, daß Bücher in meinen Augen der schönste und obendrein bunteste Wandschmuck sind, war ein Blick auf die Bücherwände zusätzlich ein Blick in die Seele ihres Besitzers. Heute kann es einem stattdessen widerfahren, daß man in einem klinisch reinen, lediglich karg mit Zweckmöbeln bestückten Wohnzimmer einer Person gegenübersitzt, die hochbelesen ist, weil sie in ihrem Buchrecorder nicht nur Millionen Bücher gespeichert, sondern auch gelesen hat. Für mich ist darin kein Fortschritt erkennbar, es sein denn, man leidet unter drastischem Platzmangel. Auch merkt man einem lediglich elektronisch verfügbaren Buch nicht an, daß es gelesen ist. Es hat keine Eselsohren, Wein- oder Kaffeeflecke und es verstaubt und vergilbt nicht. Man kann auch nicht seinen Namen oder eine Widmung hineinschreiben. Es ist nicht einpack- und verschenkbar. Ja, es kann, wenn man das elektronische Gedöne drumherum – aber wer verleiht schon auf einen Schlag eine ganze Bibliothek – nicht mit weggibt, nicht einmal verliehen werden. Letzteres könnte noch am ehesten verschmerzbar sein, da es auf diese Weise auch nicht auf Nimmerwiedersehen verschwinden kann. Umgekehrt vermehrt sich die eigene Sammlung damit aber auch nicht mehr um Exemplare, deren Vorhandensein definitiv nicht einem Eigenerwerb, sondern einer Leihe zu verdanken ist, bei denen jedoch lediglich entweder der richtige, sprich zügige Rückgabezeitpunkt ohne Gesichtsverlust verpaßt wurde oder bei denen einem beim besten Willen der Ausleiher nicht mehr einfallen will. Allein die daraus bewirkte wechselseitige Erweiterung des Buchwissens und -bestandes war etwas, das den Eigentumsverlust zumeist überwog. Außerdem war das so ersessene Buch dem früheren Besitzer offenbar nicht so wichtig, daß er sich – Bringschuld hin oder her – selbst aktiv um den Rückerhalt bemüht, ja überhaupt erst einmal Buch über die aushäusigen Schinken geführt hätte. Und was ist eigentlich mit Randbemerkungen in Bleistift!? Wenn man auf der Suche nach einer bestimmten Passage, so man es findet, ein Buch aus dem Regal zieht, helfen einem doch häufig genau diese persönlichen Notizen beim Auffinden derselben. Letztlich steht für mich noch das Thema des Bucherwerbs. Was gibt es schöneres, als mit einem kompetenten Buchhändler ins Gespräch zu kommen und sich auszutauschen bzw. beraten zu lassen. In meiner Studienzeit in Münster konnte man in der Buchhandlung Thiele, zumindest damals einem reinen Familienbetrieb, bei diesen Gesprächen in der ersten Etage sogar noch rauchen. Man kam aus dem Haus, und die Menschen fanden zueinander. Heute finden Vorinformation, Entscheidungsfindung, Erwerb und Konsum anonym statt, und weil das so ist, fragt einen nach der Lektüre auch kein Buchhändler mehr, wie es einem gefallen hat.

Bei allem Wohlwollen kann ich demnach aus nahezu keinem erdenklichen Gesichtspunkt heraus erkennen, worin der Fortschritt der E-Book-Technologie liegen soll. Kaufen und lesen wir also bitte weiter richtige Bücher aus Papier und Karton, und kaufen wir sie nicht bei Amazon, sondern von Mensch zu Mensch vor Ort. Tuen wir es nicht, ginge bald ein weiteres, äußerst wichtiges Stück Lebensqualität unwiederbringlich verloren.

Gute Nacht!

Ihr/Euer Wolf

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