wolfsgeheul.eu vom 25.09.2016

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Der Kurzsichtige wird häufig getäuscht und neigt hier und da zu Fehlinterpretationen.

Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze – und das tue ich an großen Teilen des Tages – schlagen mir meine fehlsichtigen Augen oft ein Schnippchen. Seit Jugendbeinen benötige ich für die Fernsicht eine Brille. Durch die beginnende Alterweitsichtigkeit bedarf diese inzwischen eines Gleitsichtschliffes. Weil aber damit auf kurze Entfernung, also zum Beispiel vor dem Computer, der Kopf ständig im Nacken gehalten werden müßte, um scharf zu sehen, setze ich meine Augengläser zumeist ab, da es in dieser Distanz neuerdings auch ohne Korrektur funktioniert und die extra angefertigte, teure Bildschirmbrille keine befriedigende Lösung darstellt.

Nun habe ich vom Arbeitsplatz aus relativ freie Sicht auf die kleine Straße vor meinem Haus, und beim Telephonieren, Gedankenordnen oder Sinnieren fällt der Blick immer wieder auf vorbeigehende Fußgänger. Gegen Mittag – oder in Zeiten der Ganztagsschule(s. Kolumne vom vergangenen Montag) am Nachmittag – sind es Kinder und Jugendliche, die man überwiegend schon von weitem nahen hört, weil sie so unbeschwert laut plappern und gackern. Oder es sind erkennbar alte Leute, die zwar gebeugt, aber nicht selten erstaunlich schnell ihrer Wege gehen. Und ansonsten sind es Menschen aller Couleur.

Manchmal meine ich, in der trüben Unschärfe eine attraktive Frau zu erkennen, und setze meine Brille auf, um die verschwommene Gestalt einer genaueren Inaugenscheinnahme zu unterziehen. Das ist dann wie eine Wundertüte. Nicht immer werde ich getäuscht, aber manches Mal entpuppt sich die vermeintliche Granate mit einem Lichtknall als alte Schateke. Das nenne ich „Irreführung der Behörden“. Bei meiner Beurteilung geht es mir keineswegs um das mutmaßliche Alter, welches sich mir mit Sehschärfe offenbart. Ich meine den Unterschied zwischen dem Erwarteten und dem dann tatsächlich Gesehenen. Das würde nicht passieren, wenn sich bei aller Individualität und Unterschiedlichkeit der Mode jeder so gäbe, wie er ist. Diese Zeiten scheinen aber vorbei zu sein, und es regiert die Camouflage.

Früher galt zuweilen: Von hinten Lyzeum, von vorne Museum!

Heute muß es dagegen gelegentlich heißen: Ohne Brille doll, mit Brille oll!

Schade, wenn Klasse verloren geht! Sie macht nämlich alterslos, ist authentisch und bewahrt vor Enttäuschungen. Zurück zum „You get, what you see, even without glasses“! Es gibt solche Frauen! Aber die Guten sind eben wie immer rar.

Gute Nacht!

Ihr/Euer Wolf

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