„Latein braucht man heute nicht mehr.“
erklärte mir neulich voll unumstößlichen Selbstbewußtseins und ohne auf meinen Widerspruch, mit dem er entsprechend nichts anzufangen wußte, gefaßt zu sein, ein zwölfjähriger Gymnasiast.
Welch ein Irrtum! Ein nicht unwesentlicher Teil unserer grassierenden Unbildung läßt sich nämlich genau darauf zurückführen, daß der Durchschnittsabiturient und -akademiker heute kein Latinum, geschweige denn ein Graecum – welches ich zu meinem großen Bedauern leider nicht habe, so daß ich weiß, wovon bzw. wovon nicht ich rede – vorweisen kann. Unvorstellbar aber wahr ist es, daß dieser Abschluß aber auch für kaum noch ein Studium, selbst nicht das der Medizin und Rechtswissenschaften zum Beispiel, mehr als Voraussetzung gilt. Der Jüngling lag also gar nicht so daneben und wird, wenn seine Ausbildung so weitergeht, den Unterschied, den die latine Qualifikation ausmacht, wohl niemals realisieren. Selig sind die Unwissenden.
Gestern habe ich mit einer Freundin telephoniert, die mir ihr Leid mit ihrer neuen Küche klagte. Die Corpus – mit langem „U“ und weichem „S“ – eines schwedischen Bausatz-Möbelhauses habe sie zwar zusammengeschraubt, aber nun seien ihr diejenigen von der Fahne gegangen, die sie an die Wand bringen sollten. Quel malheur! Der oben zitierte junge Mann aber hätte sie sicherlich fragend angeschaut, um sodann auszurufen. „Du meinst wohl Korpusse!?“. Die Welt wird ärmer! Schade!
Sag‘ zum Abschied leise Corpus!
Gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf