Ende vergangene Woche war ich einmal wieder kulturell im diesbezüglich unbestritten umtriebigen und vielseitigen Aachen aus. Im Theater der Stadt fand die Premiere von Bellinis „Norma“ – warum denke ich dabei nur immer zuerst an eine Discounter-Kette, in meiner Profession müßte es wenigstens die Umsatzsteuer sein – in konzertanter Aufführung statt, die ich lange nicht mehr gehört hatte. Um es vorwegzunehmen: Musikalisch ist Aachen bei den staatlich bzw. kommunal entlohnten Künstlern eine ganz andere Welt als theatralisch(s. Kolumne vom 09.03.2015). Entsprechend war es ein schöner Abend mit interessantem Provinzpremierenpublikum; unter anderen auch deshalb, weil erfahrungsgemäß die Oper eine der wenigen klassischen Kunstgattungen ist, die auch Friseure und Menschen ohne sonstige Musikkenntnis anzieht. Daß man „Norma“ offenbar überwiegend wegen der wunderschönen Cavatine „Casta Diva“ kennt und mag, war eine weitere, erneute Erkenntnis. Die einzelnen Passagen stehen schon etwas holzschnittartig, will sagen nicht harmonisch verbunden nebeneinander. Und das fröhliche Durcheineinandersingen, was obendrein wie die Koloraturen hohe Kunstfertigkeit verlangt, ist auch nicht unbedingt meins. Es kann eben nicht jeder ein Mozart oder Rossini sein! Kurz und gut: Live hören ist immer schön und meistens besser als die künstlerisch hochtrabende Konserve in den eigenen vier Wänden, und sei die häusliche Stereo-Anlage, die man mit Rücksicht auf andere oft auch nicht laut genug stellen kann, noch so gut.
Ansonsten gab es die erwartbaren Schwächen sowohl einer Premiere als auch nicht hochklassiger Künstler. Falsche Einsätze, aus dem Takt blasende Hölzer, Tempidifferenzen zwischen Gesang und Orchester, das im übrigen von einem Novizen, dem 1. Kappellmeister geführt wurde, den ich, auch wenn es sein Verschulden gewesen sein sollte, ausdrücklich von Kritik ausnehme, da jeder einmal anfangen muß, eine zumindest im ersten Akt – schade, denn gerade in dem befindet sich auch die grandiose Cavatine – nervöse und stimmlich noch etwas indisponierte Norma, die später zwar besser wurde aber bis zum Schluß technische Begrenztheiten bei den Koloraturen aufwies und immer noch mit zuviel Vibrator, pardon, Vibrato sang, eine durchgehend zu kehlige aber korrekt singende, sehr attraktive Adalgisa und so weiter und so fort. Dafür gab es einen guten Chor, der nur darunter litt, daß er von der Hinterbühne – aber irgendwie mußten die vielen Musikanten auf der nicht besonders großen Bühne ja untergebracht werden – mehr den Schnürboden als das Publikum erreichte, ein ansich sehr ordentliches Orchester, einen recht annehmmbaren Pollione, einen laut- und wohltönenden Orovisto, eine sehr angenehme, eher barocksopranige, wenn auch etwas volumenschwache Klothilde, ein schönes, festliches Ambiente, ein begeistert viel Applaus spendendes Publikum und, wie bereits gesagt, insgesamt ein sehr positives Kunsterlebnis. Und daß „Oper“ ist, wenn die dicke alte Dame singt, verkörperte in geradezu klassischer Weise, nur in junger Ausführung, die Norma. Stärken und Schwächen bei insgesamt mehr als wohlwollender Grundhaltung konnte ich im übrigen mit meiner zufälligen Platznachbarin, einer sehr kundigen älteren Dame und Dauerabonnentin, in den Pausen vollkommen nüchtern besprechen.
Jetzt kommt aber mein eigentliches Thema! Auf dem Weg hinaus traf ich zwei mir gut bekannte, ebenfalls ältere, sehr kunstbeflissene Damen wieder, die ich schon vor der Aufführung im Foyer getroffen und gesprochen hatte. Einhellig zeigten wir uns eingangs des Gesprächs erfreut und wohlbeschallt von dem Abend. Eine der Damen hob hervor, wie großartig es doch sei, daß das „kleine“ Aachen solche Ereignisse hervozubringen vermöge. Als ich nach Zustimmung meinerseits ins, durchaus auch etwas kritische Detail gehen wollte, fuhr letztere mir praktisch über den Mund mit dem Hinweis, daß jede Kritik darob wörtlich „billig“ sei und sich verbiete. Da ich grundsätzlich die Nähe älterer Damen nicht verstärkt suche, ließ ich das so stehen und verabschiedete mich formvollendet. Das war richtig so, obschon ich anderer Meinung bin. Es gibt soviele, zum Teil sogar arbeitslose oder unter Wert sich verkaufende gute Künstler, daß ich die Behauptung wage, daß auch ein Provinzensemble mit knappem Budget es nicht nötig hat, sich mit erkennbarer, bereits an ihre Grenzen gestoßenen Zweitklassigkeit zufrieden zu geben. Man muß halt als Intendant die Bereitschaft und Fähigkeit haben, nach den ungeschliffenen Juwelen zu suchen und sie zu finden. Jeder Gute wurde einmal für die kleine Bühne entdeckt und hat sich von da aus in die Welt aufgemacht, wenn man einmal von den vom Fleck weg gemanageten und geadelten Wunderkindern absieht, die, siehe Lang Lang, danach objektiv nicht zu den Besten gehören müssen, auch wenn sie Spitzenverdiener und gefeierte Stars werden. Geld promotet hohe Kunst aber produziert sie nicht immer! Also bin ich sicher, daß es sehrwohl erlaubt sein muß und legitim ist, zu kritisieren, und sei die Leistung für das Umfeld und die gegebenen Umstände im Grundsatz noch so großartig.
Die angesprochene Haltung kenne ich aber auch aus anderen Lebensfeldern. Sie ist das Ergebnis einer mangelhaften Abstraktionsfähigkeit, einer schwach ausgebildeten Streitkultur und eines übertriebenen Hanges zu Harmonie und Schönrederei. Einen Abend so oder so zu genießen und trotzdem danach sich kritisch mit dem Erlebten auseinanderzusetzen, muß sich doch nicht ausschließen und vergällt einem nicht denselben, sondern versüßt und arrondiert ihn. Daß wir soviel Mittelmaß in allen Bereichen zu beklagen haben, liegt auch an dieser mißlichen Eigenschaft des eingelullt bleiben Wollens. Schade, um die dabei zuhauf verpaßten Chancen und das zum Teil falsch ausgegebene Geld!
Gute Nacht!
Ihr/Euer Wolf